Auf unserem Balkon stehen zwei kleine Apfelbäumchen. Der eine trägt meist sechs bis acht Äpfel. Sie sind groß, gelb, süß und weich. Der andere wurde vor einigen Jahren von einer umgestürzten Pappel aus der Nachbarschaft beinahe erschlagen. Einige Äste brachen ganz ab. In der Mitte entstand ein Riss, der mit einer Schnur zusammengebunden wurde.
Auf den ersten Blick hat dieser Baum jetzt die Form von Spalierobst. Auf den zweiten Blick sieht man all seine Verletzungen. Im vergangenen Jahr trug er 21 Äpfel. Sie waren kleiner, gelb und rot mit vielen Schattierungen, knackig und süß mit einer feinen Säure, und sie schmeckten im Herbst nach Frühsommer. Für mich gibt es keine leckereren Äpfel als diese.
Im Kopf habe ich beim Genießen: „Man freute sich vor deinem Angesicht, wie man sich freut bei der Ernte, wie man jubelt, wenn Beute verteilt wird.“ (Jesaja 9,2) Den ersten Satz kann ich gut nachvollziehen. Doch wenn ich an Beute denke, hat das oft einen negativen Beigeschmack: Jemand anderem wurde etwas weggenommen. Anders ist es, wenn Menschen freiwillig teilen. Als Seelsorger bin ich oft auch Beschenkter – indem ich einen Artikel meiner Frau aufgreifen konnte – und ebenso durch diesen Text von Ursula Ehemann:
Meine Ernte
Früher dachte ich, ich müsse ein ganzes Feld abernten, um etwas geleistet
zu haben. Heute weiß ich, dass zum Ernten erst einmal das Säen gehört:
Der liebevolle Umgang mit mir selbst! Das Lächeln, das ich empfange und
erwidere – auch beim Blick in den Spiegel.
Der Stolz, wenn ich eine Aufgabe geschafft habe. Dass ich jeden Tag merke, dass
da Licht ist, bei allen Schatten. Dann kann ich auch anderen meine Hand,
meine Schulter oder mein offenes Ohr anbieten.
Ich ernte dann: Das Gefühl des kleinen Glücks. Das kleine Glück – viel wichtiger
und erreichbarer als ein riesiges Glück, auf das ich warte, ohne dass es eintritt.
Die Ernte hat etwas mit mir zu tun, aber vor allem auch mit denen die mich
umgeben und mich lieben. Ich kann nur ernten, wenn ich das auch zulasse.
Eine der schwersten Aufgaben überhaupt:
Ernte ist in erster Linie nicht Verdienst, sondern Geschenk.
Dr. Benedikt Peter